Nicht da sein

Über das ‚Nicht da sein‘

In letzter Zeit ist mir eine Sache besonders klar geworden. Den größten Teil meines Lebens war ich nicht wirklich dabei. Und das Schlimme ist, ich habe es noch nicht einmal bemerkt. Ich habe mich selbst nicht wahrgenommen. Zu meinen Gefühlen und zu meinem Körper hatte ich keinen Zugang. Wenn ich nach innen geschaut habe, dann war es da einfach nur LEER. Beim Blick in den Spiegel habe ich einen fremden Menschen gesehen.
Das Leben fühlte sich an wie in einem Film. Ich selbst habe als Schauspieler mitgespielt und das gemacht, was von mir erwartet wurde. Es war irgendwie nicht real und ich fühlte mich oft wie eine Außerirdische. Ich stellte mir immer wieder die Frage: Was mache ich hier eigentlich, das macht doch alles keinen Sinn?.

 

Von außen hat man mir das kaum angemerkt. Ich hatte immer meine ‚alles in Ordnung‘-Maske aufgesetzt. Selbst diese habe ich nicht wahrgenommen, es war ja niemand dahinter, der sie hätte wahrnehmen können. Ich war voll im ‚Funktionsmodus‘ und das hat sehr lange Zeit wunderbar funktioniert. Das Kartenhaus ist mit 38 Jahren zusammengebrochen. Psychosomatische Krankheiten und eine schwere Depression haben mir ganz klar signalisiert, das es so nicht weitergehen kann.

Dissoziation, Derealisation und Depersonalisation

Heute kenne ich die Fachbegriffe dafür: Dissoziation, Derealisation und Depersonalisation – alles klassische Traumafolgesymptome.

 

Dissoziation ist eine Abspaltung von Dir selbst. Sehr gut erklärt wird dies in diesem Video von Dami Charf: Dissoziation

Derealisation ist ein Entfremdungserleben, bei der die Umwelt (Umgebung, Personen und Gegenstände) fremdartig wirken. Bei Depersonalisation erlebt man sich selbst als fremdartig oder unwwirklich.

 

Ich kenne alle drei Zustände und steckte da oft tief drinnen fest. Lange Zeit kannte es nicht anders und dachte, das wäre normal. Ich bemerkte meine Dissoziation erst, als ich begann sie zu verlassen. Ich kann mich nur an sehr wenige Momente in meinem Leben erinnern, wo ich mich wirklich lebendig gefühlt habe. Damals war ich noch Kind. In der Pubertät und als Erwachsener habe ich dann irgendwie abgeschaltet.

 

Ich erinnere mich an eine Situation, in der mein Lebenspartner ausgelöst durch einen Schock in eine Dissoziation gefallen ist. Er beschrieb diesen Zustand als schwarze Leere, als Nichts, kein Körper, keine Gefühle, da ist niemand, nicht mal er selbst – er assoziierte diesen Zustand mit dem Tod. Dieses Erlebnis hat extreme Angst in ihm ausgelöst und er wollte da so schnell wie möglich raus, was ihm durch Bewegung auch gelang. Das ist sicher ein Zustand von extremer Dissoziation gewesen, aber die Qualität kam mir sehr bekannt vor. Dieser Zustand natürlich in verschiedenen Abstufungen war lange mein Normalzustand. Durch dieses Ereignis wurde mir nochmal sehr klar, in was für verschiedenen Welten wir leben und wie krass unterschiedlich die Wahrnehmung ist. Mein Partner hat nie verstanden, was ich meinte, wenn ich von Leere und Entfemdungsgefühl berichtet habe. Ein Mensch der das nie erfahren hat, kann das rein über den Verstand nicht begreifen. Ich fühlte mich durch dieses Ereignis erstmalig im Leben wirklich von ihm gesehen und das hat ganz viel Verbindung geschaffen.

‚Lebendig werden‘ – das heißt auch den Schmerz spüren

Rückblickend ist das alles sehr schmerzlich. In den letzten Jahren der Therapie sind sehr viele Tränen über das ‚verpasste‘ Leben geflossen. All das was ich erreicht habe, das hat für mich kaum einen Wert. Beruflicher Erfolg, eigenes Haus und Familie – alles schön und gut, aber nicht meins. Für Außenstehende ist das absolut nicht nachvollziehbar und sie fassen sich an den Kopf. Aber ich empfinde das wirklich so. Besonders krass ist dieser Gedanke natürlich in Bezug auf meine Familie. Hier habe ich oft große Schuldgefühle. Meine Kinder sind schon fast groß und hatten eine Mutter, die nicht wirklich präsent war. Das ist alles irgendwie an mir vorbei gerauscht und die Erinnerung ist sehr schwammig.

 

Im Laufe meiner Heilung erlebe ich zunehmend Zustände ohne Dissoziation. Es ist als ob jemand den Schleier wegzieht, die Wahrnehmung der ganzen Welt ist anders. Ich spüre mich selbst, mein Spiegelbild lacht mich an, ich fühle mich lebendig. Derzeit kann ich diesen neuen Zustand noch nicht dauerhaft halten und ich springe zwischen den Welten hin und her. Mir ist der Unterschied mittlerweile sehr bewusst und ich habe ganz klar das Ziel: Dissoziation will ich nicht mehr

 

So tragisch das auch alles ist, es bringt nichts in Selbstmitleid zu versinken. Das Leben ist ja schließlich noch nicht vorbei und es war auch nicht alles schlecht. Manchmal kann ich auch das Gute in der Dissoziation sehen. Sie hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Dissoziation ist die Abspaltung von Erinnerungen, von Gefühlen oder von Körperempfindungen. Sie ist ein wichtiger Schutzmechanismus der Psyche, um sich vor Überlastung zu schützen. In der Pubertät war ich kurz davor, mir das Leben zu nehmen. Dissoziation war mein Überlebensmittel, ohne Dissoziation gäbe es mich wahrscheinlich nicht mehr.

Quellen und weiterführende Links

Dissoziation – der Schutz vor sich selbst– Dami Charf
Dissoziation – Dami Charf
Nicht da sein dürfen – Gopal Norbert Klein