Ich gehöre nicht dazu

Heute möchte ich über ein Problem berichten, welches vielleicht viele Menschen mit sozialen Ängsten haben: das ‚Ich gehöre nicht dazu‘ – Gefühl.

 

Ich kenne dieses Gefühl sehr gut. Wenn es kommt, dann falle ich in ein tiefes schwarzes Loch. Ich fühle mich einsam und getrennt von allem. Es ist meist der Einstieg in eine depressive Phase. Alle bisherigen Erfolge werden in Frage gestellt, es bricht alles zusammen. Ich fühle eine große Sinnlosigkeit und falle in mein übliches Rückzugsmuster.

 

Früher hat mich das total umgehauen, ich war dem Gegenüber komplett hilflos. Ich habe mich in dem Gefühl der Einsamkeit gesuhlt und diese Phasen haben manchmal Monate angedauert. Heute falle ich nur noch selten in dieses Loch und ich komme im Unterschied zu früher viel schneller wieder raus.

Auslösende Situationen

Der Auslöser ist bei mir im Prinzip immer der Gleiche. Es sind die typischen Gruppensituationen, in denen ich es nicht schaffe, in Kontakt mit den Menschen zu treten. Weihnachtsfeier und Meetings in der Firma, Geburtstage, Klassentreffen, Kinoabend – die Liste ist unendlich lang. Oft vermeide ich aus Angst solche Situationen, das ist aber nicht immer möglich. Es ist auch nicht sinnvoll, denn eine Heilung kann nur im Kontakt mit Menschen stattfinden, dessen bin ich mir sehr bewusst.

 

Der Ablauf ist immer ähnlich. Am Anfang bin ich meist motiviert und positiv gestimmt. Ich nehme mir vor, aktiv in Kontakt zu gehen und neue Sachen auszuprobieren. Ich zwinge mich zu Smalltalk und versuche ‚dabei‘ zu sein. Innerlich bin ich meist sehr angespannt und es dauert oft nicht lange, bis die Situation für mich kippt. Ich werde immer ruhiger und gehe in die Beobachterposition. Ich beobachte sehr gerne und höre den Gesprächen interessiert zu.

 

Irgendwann kommt dann aber der Punkt, an dem es zunehmend leer im Kopf wird. Ich trenne mich innerlich und das Gefühl ‚nicht dazu zugehören‘ steigt so langsam auf. Ich setzte mich dann oft unter Druck, weil es an der Zeit ist, auch mal wieder etwas zu sagen. Wenn ich mir dann einen Satz überlegt habe, ist das Gespräch schon längst weiter und der Satz passt nicht mehr. Ich falle dann immer mehr in eine Blockade und in die Erstarrung. Der Kopf ist leer, ich bin nicht mehr da und starre vor mich hin – der Fachbegriff für diesen Zustand ist Dissoziation. Meist ist das der Punkt, wo ich dann flüchte und die Veranstaltung verlasse.

 

Im Nachgang kommt dann noch der innere Kritiker. Er sagt nicht: ‚Toll, Du hast es gewagt, Du warst dabei und das war doch ein guter Anfang‘. Nein, er sagt: ‚Du hast es wieder vermasselt, Du schaffst das nie, Du gehörst halt nicht dazu‘ – typisches Schwarz-Weiß-Denken. Und am nächsten Tag geht es mir meist richtig schlecht.

Die Lüge erkennen

So, oder so ähnlich habe ich es schon oft erlebt. Früher war ich damit total identifiziert. Heute mache ich etwas anders und ich habe einen anderen Blick auf diese Situationen. Ich kenne die Auslöser, die Situationen werden vorhersehbar. Ich beobachte mich selbst und erkenne, dass dies alles nur Zustände aus der frühen Kindheit sind. Es ist eine Reinszenierung früher Erfahrungen – ganz typisch für Entwicklungstrauma. Ich falle da immer wieder rein und bin dem scheinbar ausgeliefert.

 

Ganz wichtig ist dieses Wort ‚scheinbar‘. Das Allerwichtigste, was ich gelernt habe, ist zu erkennen, dass mich mein Körper, mein Gefühl und mein Verstand in diesen Situationen anlügen. Es passt alles nicht zur heutigen Realität.

  • Der Körper lügt
    Mein Körper reagiert mit Angst und Erstarrung im Kontakt mit Menschen. Die Verbindung mit Menschen ist aus Sicht meines Nervensystems gefährlich. Das ist aufgrund sehr früher Erfahrungen in der Kindheit entstanden und war wichtig für das damalige Überleben. Ein Realitätscheck heute sagt mir aber, dass von anderen Menschen keine Lebensgefahr ausgeht, es sei denn, ich werde angegriffen oder mein Gegenüber ist bewaffnet. Kontakt mit Menschen ist nicht gefährlich, als Erwachsener bin ich handlungsfähig und ich kann mich verteidigen.

  • Das Gefühl lügt
    Auch das Gefühl von völliger ‚Abgetrennheit‘ und ‚Einsamkeit‘ passt nicht mehr zur heutigen Situation. Das Gefühl ist da, weil ich die Situation gemäß meinen Kindheitserfahrungen so interpretiere. Aber in Wirklichkeit bin ich nicht alleine, es sind Menschen um mich herum. Wenn ich mich nicht selbst trenne, dann gehöre ich dazu! Niemand stößt mich weg oder will mich nicht dabeihaben.

  • Der Verstand lügt
    Der Verstand hat das Bedürfnis, das was auf  körperlicher Ebene erlebt wird, mit der Realität in Einklang zu bringen. Nur so fühlt sich alles kohärent an. Er erfindet also ‚Geschichten‘, die das Körpererleben erklären. In meinem Fall ist die Erklärung des Verstandes für die körperlichen Angstsymptome ‚Ich bin anders, ich bin falsch, ich schaffe das nie‘. Auch das stimmt nicht. Mein Körper reagiert so, weil mein Nervensystem in frühester Kindheit so programmiert wurde. Das ist einfach so passiert, ohne dass ich es beeinflussen konnte.

Ins Handeln kommen

Wichtig ist es also, zu erkennen, was da abläuft. Wir sind nicht falsch, es ist am Ende alles nur Biologie! Frühe Verletzungen haben Einfluss auf unser Nervensystem, unsere Gehirnentwicklung, auf unser Fühlen und unser Denken – das ist wissenschaftlich erwiesen. Irgendwann kommt der Punkt, an dem man die Nase voll davon hat. Immer wieder reinfallen in die alte Schlammgrube, immer wieder das gleiche Spiel, immer wieder die gleichen Abwehr- und Schutzmechanismen. Als Erwachsener können wir etwas dagegen tun, die Kindheit ist vorbei!

 

Diese Dinge haben bei mir funktioniert und dafür gesorgt, dass mich das Gefühl aus der Kindheit nicht mehr überwältigt:

 

  • das Wissen über Entwicklungs- und Bindungstrauma war der Einstieg und extrem hilfreich, um mich besser zu verstehen
  • dann der Realitätscheck: immer wieder prüfen, ob das, was ich denke und innerlich erlebe, wirklich zur aktuellen Situation im Hier und Jetzt passt. Meist leben wir in irgendwelchen Geschichten und reinszenieren unsere Kindheit
  • Überforderung und Erstarrung vermeiden, viele kleine Schritte gehen
  • immer wieder Herausforderungen suchen, in Kontakt mit Menschen gehen, auch wenn es sich ‚komisch‘, ‚fremd‘ und ‚unsicher‘ anfühlt
  • TRE, um dem Nervensystem zu signalisieren, dass die Gefahr vorbei ist
  • und ganz wichtig: das ehrliche Mitteilen der inneren Zustände im Kontakt mit Menschen

Innere Zustände mitteilen

Der letzte Punkt war bei mir neben TRE der entscheidende Schritt. Nur wenn man seine Zustände mitteilt und dies gehört wird, dann kann etwas heilen. Durch die Kommunikation habe ich die Rückmeldung erhalten, dass meine Annahme ‚Ich gehöre nicht dazu‘ völlig falsch ist.

 

Während der Situation fällt es mir noch schwer, wirklich ehrlich zu sagen, was ist. Ich mache es, wenn überhaupt, erst hinterher. Oft ist es im Alltag auch nicht passend und es fehlt der geschützte Rahmen. Es gibt mittlerweile aber viele Angebote, wo man in Gruppen authentische Kommunikation üben kann. Solche Gruppen besuche ich regelmäßig. Dort schaffe ich es, mich zu öffnen und es entstehen dadurch viele Momente der Nähe, wo ich mich wirklich verbunden und sicher fühle. Nach und nach schaffe ich das auch in der Familie und manchmal auch schon im Alltag.

 

Ganz praktisch bedeutet dies, dass ich während oder nach oben beschriebenen Situationen kommuniziere:


‚Ich weiß gerade nicht, was ich sagen soll‘
‚Ich fühle mich irgendwie leer‘
‚Ich habe Angst, dass Ihr denkt, ich will nichts mit Euch zu tun haben‘
‚Ich würde gern was sagen, aber ich fühle mich blockiert‘
‚Ich war nach unserem Treffen sehr traurig, weil ich das Gefühl hatte, nicht dazu zu gehören‘

usw.

 

Das ist am Anfang total schwer. Wenn es aber raus ist, dann ist es sehr erleichternd. Hinterher fühle ich mich viel freier und einfach nur glücklich. Oft kommen auch Tränen und schmerzliche Gefühle. Das fühlt sich für einen Moment nicht schön an und ich habe auch oft Schamgefühle. Trotzdem ist es richtig! Es bringt mich in Verbindung mit anderen Menschen. Die anfangs befürchteten negativen oder abwertenden Reaktionen sind bisher nie eingetreten. Ich denke, das passiert sehr selten, wenn das Gesagte wirklich von innen kommt und ehrlich ist.

 

Dieser Weg lohnt sich und es funktioniert! Mir hat das sehr geholfen und ich bin überzeugt, dass dies ein Weg auch für andere Menschen ist. Mittlerweile leite ich eine eigene Gesprächsgruppe und nach jedem Termin sind die Teilnehmer und ich einen kleinen Schritt weiter in Richtung Heilung gekommen.

Quellen und weiterführende Links

Das Nervensystem lügt uns an
Emotionale Räume: Reinszenierung oder Transformation
Die Reinszenierungen hinter sich lassen
Wie man das Nervensystem updatet
Was hilft bei sozialen Ängsten?
Lokale Gruppen

 

Das Gefühl getrennt zu sein und nicht dazu zugehören ist oft assoziiert mit Erstarrung, Dissoziation oder Angst vor Nähe. Über meine Erfahrungen hierzu berichte ich in diesen Blogartikeln:

 

Raus aus der Erstarrung
Nicht da sein
Angst vor Nähe