Einsamkeit

Nach der 8.Klasse hatte ich einen Schulwechsel. Meine bis dahin stabilen Freundschaften sind schlagartig zerbrochen. Es war die Zeit der politischen Wende und der Beginn der Pubertät, alles war im Umbruch und es änderte sich einfach alles. Ich hatte immer noch mein Kontaktproblem und wurde in der neuen Klasse zum Außenseiter. Ich war ‚anders‘ und fühlte mich wie ein Außerirdischer. Die Aktivitäten der Pubertät sind bei mir ausgefallen, wenn andere sich mit Freunden trafen oder zur Disko gingen, dann blieb ich zu Hause. Als besonders schlimm empfand ich die Klassenfahrten in dieser Zeit. Ich habe mich oft verkrochen und heimlich geweint.

 

Ich habe mich voll auf die Schule konzentriert, war ein Einzer-Schüler. Das Prinzip ‚Anerkennung und Selbstwert durch Leistung‘ hat nicht wirklich funktioniert, ich habe es aber in den Folgejahren immer beibehalten. Nach dem Abi habe ich Informatik studiert und mit Auszeichnung abgeschlossen. Ich habe mich sozial immer mehr isoliert, echte und nährende Freundschaften hatte ich seit der 8.Klasse nicht mehr und das war bis zum 40. Lebensjahr so.

Chronisch depressiv

Meine erste schwere Depression mit Suizidgedanken hatte ich während dem Abi. Meinen Eltern habe ich davon nichts erzählt, aber sie spürten es und fühlten sich hilflos. Therapiemöglichkeiten waren zu dieser Zeit rar. Ich wollte auch keine Hilfe annehmen, denn ich war es gewohnt, alle Probleme alleine zu lösen.

 

Im weiteren Verlauf schien erstmal alles perfekt: Studium, Hochzeit, Hausbau, Kinder und erfolgreich im Beruf. Mit 35 Jahren meldete sich dann mein Körper. Es begann mit chronischen Mandelentzündungen und ich habe viele Antibiotika genommen. Nach Entfernung der Mandeln ging es mit chronischer Nasennebenhöhlenentzündung weiter. Auch diese wurde operiert. Danach litt ich unter Schmerzen in der linken Gesichtshälfte. Eine Ursache wurde nie gefunden und das ganze lief unter ‚psychosomatisch‘ oder ‚atypischer Gesichtsschmerz‘. Das war dann auch die Zeit, wo ich mich körperlich immer schwächer fühlte, ich war erschöpft. Ich hatte aus heiterem Himmel Heulanfälle, die nicht mehr aufhörten und mir ging es zunehmend schlechter.

 

Es dauerte dann immer noch eine Weile bis ich realisiert habe, dass ich Depressionen habe. Schon vor dem 35. Lebensjahr hatte ich depressive Symptome, ich habe das aber ignoriert bzw. für normal gehalten. In den letzten Jahren habe ich mehrere Phasen von mittelschwerer bzw. schwerer Depression erlebt. Ich habe 5 verschiedene Antidepressiva ausprobiert, keines hat geholfen. Die Therapieerfolge waren sehr bescheiden und ich galt als therapieresistent und chronisch depressiv.

Angst vor den Menschen

Ich habe auch als Erwachsener noch soziale Ängste, diagnostiziert wurde das als ’soziale Phobie‘. Ich bin sehr ruhig und brauche sehr lange, um in Kontakt mit Menschen zu kommen. Mit ‚Smalltalk‘ habe ich ein Problem, leider ist das oft der Türöffner für zwischenmenschlichen Kontakt. In Gruppen ist es besonders schlimm, da bin ich stets der stille Beobachter. Informatik habe ich studiert, weil man da nicht mit Menschen kommunizieren muss. Als das dann doch gefordert wurde, bin ich in die Vermeidung gegangen und habe meinen Arbeitgeber gewechselt.

 

Um mich herum habe ich innerlich eine riesige Mauer gebaut, die mich schützt. In den Gesprächstherapien war das für die Therapeuten oft sehr schwierig. Wenn es gelang eine Tür zu öffnen und wirkliche Nähe herzustellen, dann kammen oft viele Tränen. Das war mir unangenehm und ein weiterer Grund für die Vermeidung.

Dissoziation

Über den Begriff Dissoziation bin ich erst recht spät gestolpert. Das ist ganz vereinfacht gesagt eine Abspaltung vom eigenen Erleben, z.B. Abspaltung von Erinnerungen, von Gefühlen oder von Körperempfindungen. Dadurch ändert sich die Selbstwahrnehmung oder auch die Wahrnehmung der Umwelt. Dissoziation ist ein wichtiger Schutzmechanismus der Psyche, um sich vor Überlastung zu schützen. Man kann sich das auch wie eine Art Trance vorstellen.

 

Ich erlebe Dissoziation oft in Form von Derealisation und Depersonalisation. Die Welt fühlt sich dann fern und fremd an, so als ob das alles nicht real ist. Ich stehe dann irgendwie neben mir und sehe mich selbst und die Umgebung so, als ob ich mir einen Film anschaue. Erst seit kurzem ist mir bewusst, dass das für mich in den letzten Jahren fast ein Dauerzustand war.

 

Ganz häufig ist auch die Abspaltung vom eigenen Körper, das ist auch bei mir so. Ich habe oft keinen Zugang zu den Empfindungen meines Körpers, ich spüre mich einfach nicht. Ich mag keinen Sport. Körperliche Berührungen merke ich zwar, aber ich fühle sie nicht. Stattdessen ist all meine Energie im Kopf, die Gedanken rasen ständig und sind sehr dominant. Körper und auch Gefühle werden in diesem Zustand nicht oder kaum wahrgenommen.