Selektiver Mutismus
Ich bin 1976 geboren und in einem kleinen Dorf in Brandenburg aufgewachsen. Für meine Eltern war ich ein absolutes Wunschkind.
Als Baby war ich ganz normal und es gab keine Hinweise auf eine Entwicklungsstörung. Mit 1,5 Jahren kam ich in die Kinderkrippe, für die damalige Zeit war das eher spät. Dies war der Zeitpunkt, an dem sich zeigte, dass ich irgendwie anders bin. Ich war ein sehr stilles Kind, mit den Erzieherinnen habe ich kein Wort gesprochen. An diese Zeit habe ich selbst keine Erinnerung.
In der Grundschulzeit hatte ich wenige, aber sehr wertvolle Freunde. Gegenüber den Lehrern und der Klasse als Gesamtheit hatte ich Angst und auch Sprechblockaden. Ich war eine sehr gute Schülerin und das Lernen hat mir Spaß gemacht. Nur wenn es darum ging, mich mündlich im Unterricht zu äußern, dann war mein Problem wieder ganz präsent. Die Note in Mitarbeit, war immer die schlechteste Note auf meinem Zeugnis. Die Lehrer haben mich immer ermutigt, mich im Unterricht zu melden, aber das half nicht. Je mehr Druck es in dieser Richtung gab, desto schlimmer wurden meine Ängste. Besonders schlimm, war es bei Vorträgen und im Musikunterricht. Ich hatte schon Tage vorher Angst und habe mich extra gut vorbereitet. Bei Vorträgen habe ich den ganzen Text auswendig gelernt, damit nichts schief geht. Ich habe mit niemandem darüber gesprochen, auch nicht mit meinen Eltern.
Generell war es so, dass ich schon zu dieser Zeit alle Sorgen mit mir alleine geklärt habe. Auch gegenüber meinen Eltern gab es Sprechblockaden, wenn es zu persönlich wurde. Ich kann mich an Momente erinnern, in denen meine Mutter eine halbe Stunde an meinem Bett saß und vergeblich versuchte, das aktuelle Problem aus mir ‚herauszuquetschen‘. Ich blieb einfach nur stumm und habe danach heimlich geweint.
Auch außerhalb der Schule war mein Verhalten auffällig. Wenn ich auf der Straße bekannte Leute traf, dann habe ich nicht gegrüßt. Es war keine Frage des Wollens, es war wie eine Blockade, es ging einfach nicht. Für meine Eltern war das eine große Belastung, denn sowas ‚macht man doch nicht‘. Sie waren hilflos und ich fühlte mich zunehmend ’nicht verstanden und irgendwie falsch‘.
Erst mit knapp 40 Jahren habe ich durch Googeln entdeckt, dass mein damaliges Problem einen Namen hat: ‚Selektiver Mutismus‘. Damals gab es diese Diagnose noch nicht, geschweige denn eine Therapie. In diesem Moment gab es bei mir eine große Erleichterung, denn wenn das Ding einen Namen hat, dann bedeutet das: ‚Ich bin nicht allein damit auf dieser Welt‘. Vorher hatte ich immer das Gefühl, das mich nie jemand verstehen wird, weil alle anderen Menschen irgendwie anders sind.
In der letzten Zeit beschäftige ich mich intensiv mit dem Thema ‚Selektiver Mutismus‘. Die ersten 3 Lebensjahre sind sehr entscheidend für die weitere Entwicklung eines Menschen. Ich bin mir mittlerweile sicher, dass der Grundstein für die psychischen Probleme, die ich in der Pubertät und als Erwachsener durchlebt habe, in dieser Zeit gelegt wurde. Weitere Gedanken dazu habe ich im Artikel Selektiver Mutismus ist eine Traumafolgestörung aufgeschrieben.
Eine sehr schöne Beschreibung über selektiven Mutismus findest Du hier: Eingesperrt im Gefängnis des Schweigens