Angst vor Nähe

Ein ganz klassisches Zeichen für ein frühes Entwicklungstrauma ist die Angst vor Nähe. Dieses Thema zieht sich oft durch alle Lebensbereiche. Den Betroffenen ist das oft nicht bewusst. Es sind unbewusste und automatisierte Abwehrmechanismen, mit denen die Menschen wirkliche Nähe vermeiden. Im Prinzip gibt es drei grundlegende Strategien:

 

  • Flucht
    Flucht dient der Vermeidung von Nähe: Beziehungen gar nicht erst eingehen, Schluss machen, wenn es ernst wird, keine Zeit für die Beziehung haben, weil Arbeit oder Hobbys wichtiger sind, untreu sein, Fernbeziehung usw.

  • Angriff
    Hier geht es darum den Partner irgendwie auf Abstand zu halten: ständig streiten, rumzicken, bockig sein, passive Aggression in Form von Schweigen usw.

  • Totstellreflex
    Diese Strategie tritt auf, wenn das Bindungstrauma besonders schlimm ist. Die Betroffenen haben keinen aktiven Einfluss mehr, sie fühlen sich hilflos. Nähe ist so gefährlich, dass nur noch ‚abschalten‘ und ‚über sich ergehen lassen‘ funktioniert. Im Prinzip ist das nichts anderes als Dissoziation.

 

Das Problem ist, dass sich die betroffenen Menschen tief im Inneren nach Nähe sehnen, aber gleichzeitig der Außenwelt signalisieren ‚Nein, ich will nicht‘. Es ist ein ‚Wollen‘ und gleichzeitig ein ’nicht Können‘. Das ‚Nein‘ ist Ausdruck einer Bindungsstörung und die Ursache liegt in der frühen Kindheit. Als Erwachsener wissen wir oft nicht, was mit uns los ist und wir fühlen uns hilflos und einsam. Das Problem ist entstanden, als wir noch sehr klein waren (Schwangerschaft bis zum 3. Lebensjahr). Die Bindung zu den Bezugspersonen ist aus irgendwelchen Gründen nicht gut gelungen. Als Baby ist fehlende oder unsichere Bindung ‚lebensbedrohlich‘, Nähe wird gleichgesetzt mit Gefahr. Wegrennen und andere Eltern suchen geht nicht. Dem Baby bleibt nur Schreien oder im schlimmsten Fall innerlich abschalten. Als Erwachsener haben wir dann tief im Inneren Sätze wie: ‚Da ist niemand‘, ‚Ich bin allein‘, ‚Keiner versteht mich‘, ‚Ich bin grundlegend falsch‘ usw.

 

Das Thema Bindung und Bindungsstörungen ist sehr interessant. Hier findet man Wissen und Lösungen für die eigenen Probleme und auch für die Probleme der Menschheit. Ich empfehle jedem, sich in dieser Richtung weiter zu informieren. Zum Thema Bindungsangst empfehle ich ein sehr gutes Buch:

Die Lösung: Sicherheit im Kontakt

Ich habe selbst Bindungsangst und meine Abwehrstrategie war lange Zeit der Totstellreflex. Kontakt mit Menschen war immer verbunden mit Angst und er hat mich überfordert. Meine Lösung dafür war Rückzug. Körperliche Nähe ging nur mit Dissoziation, ich habe meinen Körper nicht mehr gespürt.
Da ich unter meiner Angst vor Nähe gelitten habe, bin ich ständig auf der Suche nach Lösungen gewesen und habe verschiedenste Therapien ausprobiert. Es ging nicht wirklich voran.

 

Heute habe ich die Lösung gefunden und diese lautet: Sicherheit im Kontakt mit Menschen. Die Theorie dahinter ist die Polyvagal-Theorie von Dr. Stephen Porges. Diese Theorie besagt, dass ein wirklicher Kontakt zwischen Menschen nur möglich ist, wenn dieser als sicher empfunden wird. Erst durch das Gefühl von Sicherheit ist der Mensch in der Lage zu sozialer Interaktion. Empfundene Sicherheit sorgt dafür, dass bestimmte Teile des Nervensystems aktiv werden und Nähe möglich ist. Dies ist ein rein körperlicher Vorgang.

 

Aber wie funktioniert das jetzt praktisch? Hier kann ich nur von meinen eigenen Erfahrungen berichten, es gibt sicherlich viele Wege:

 

  1.  keine Grenzen überschreiten
    Ganz wichtig ist, dass man beim Versuch in Kontakt zu treten seine eigenen Grenzen anerkennt und nur das tut, was sich gut anfühlt. Das klingt banal, ist aber in der Praxis meist sehr schwierig.

  2. vom ‚Offline-Modus‘ in den ‚Online-Modus‘ (wichtig für die Menschen mit Strategie ‚Totstellreflex‘)
    Wenn wir in Kontakt treten wollen, dann ist es ganz wichtig ‚überhaupt dabei zu sein‘. Oft sind wir in Dissoziation, d.h. wir spüren unseren Körper nicht, wir starren vor uns hin, sind in Gedanken verloren. Hier hilft es sich erstmal im Raum oder in der Außenwelt zu orientieren, sich umzuschauen und zu prüfen, ob es im ‚Hier und Jetzt‘ wirklich eine Gefahr gibt. Hilfreich ist es auch sich zu bewegen, dadurch kommt man raus aus der Erstarrung und zurück in den Körper.

  3. Vertrauen
    Am Anfang ist es gut, den Kontakt mit einer Person zu üben, der man vertraut. Das kann der Partner, Freund oder auch ein Therapeut sein. Wichtig ist auch, dass es keinen Zeitdruck oder Ablenkung gibt.

  4. sich langsam und bewusst annähern
    Damit meine ich Schritt für Schritt aufeinander zu und in Kontakt gehen und dann wieder zu pausieren. Spüren, was das mit einem macht, wie es sich anfühlt, prüfen auf Grenzüberschreitungen und ob es sich noch gut anfühlt, usw.

  5. sich mitteilen
    Hier gilt es die eigenen persönlichen Zustände im Kontakt mitzuteilen: Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen. Das machen wir normalerweise nicht, wir behalten es für uns, es wird nie gehört. Stattdessen unterdrücken wir die Zustände oder wir agieren sie aus. Werden die Zustände einfach nur geäußert, so verlieren sie ihre Macht und wir fühlen uns befreit.

  6. neue Erfahrungen annehmen und zulassen
    Heilsam sind neue und positive Erfahrungen im Kontakt mit Menschen. Am Anfang fällt es schwer das zuzulassen und anzunehmen. Manchmal fühlt es sich auch an wie Selbstbetrug. Aber der Weg lohnt sich. Macht man es oft genug, so sind irgendwann die ‚alten Bahnen‘ überschrieben…

Abschließend noch ein Umsetzungsbeispiel aus meiner persönlichen Erfahrung:

Körperkontakt zulassen
Durch das schrittweise und langsame Annähern und Ausprobieren ist bei mir das Gefühl von Sicherheit entstanden. Ich kann jetzt Körperkontakt mehr und mehr zulassen, ja sogar genießen. Früher hat mein Partner mich ungefragt gestreichelt und war der Meinung er tut mir etwas Gutes. Tatsächlich ist das Streicheln nicht angekommen, weil ich in Dissoziation war. Ich habe das nicht kommuniziert und er dachte, es wäre alles in Ordnung. Das ging über viele Jahre hinweg so.

 

Heute ‚üben‘ wir regelmäßig Körperkontakt und ich fühle mich gut dabei. Ich sage meinem Partner, wo sich eine Berührung gut anfühlen würde. Dann legt er einfach nur seine Hand auf und ich schaue, ob es sich tatsächlich gut anfühlt und wir modifizieren. Ich sage z.B. ‚Ich spüre Deinen Puls‘, ‚Das fühlt sich warm an‘, ‚Das ist mir unangenehm‘, usw. Auch mein Partner äußert seine eigenen Empfindungen. Dafür nehmen wir uns viel Zeit. Durch diesen Prozess haben wir z.B. festgestellt, dass normales Streicheln für mich zu viel ist. Es geht einfach zu schnell, ich kann mich nicht auf die Berührungen einlassen. Es fühlt sich durch die Bewegung unkontrollierbar und damit bedrohlich an. Als Schutz davor bin ich automatisch in den Totstellreflex (Dissoziation) gefallen.

 

Ein ähnlicher Prozess ist natürlich auch bei Annäherung im Gesprächskontext möglich. Dort geht es auch darum, die inneren Zustände zu kommunizieren. Man könnte z.B. sagen: ‚Ich fühle mich so leer‘, ‚Ich bin wütend auf Dich‘, ‚Ich weiß gerade nicht, was ich sagen soll‘,  ‚Ich bin einsam‘, ‚Ich habe Angst‘ usw.