Mutismus – Trotz, Angst oder Blockade?

Schweigen ist ein sehr mächtiges Mittel, um Distanz zu erzeugen. Es kann viele Bedeutungen haben.

 

  • Passive Aggression
    Diese Art des Schweigens wird oft als Trotz oder Machtspiel empfunden. Manchmal erfüllt es sogar die Funktion der Strafe. Nicht mehr mit jemandem zu reden ist ein Ausweg, den viele Menschen wählen, um ihre Wut „auszudrücken“. Dem Gegenüber wird die Möglichkeit der Kommunikation genommen, damit wird er entmachtet und ist hilflos.

  • Angst
    Bei sozialer Phobie ist das Schweigen eine Art der Vermeidung. Sprechen ist mit der Angst verbunden, etwas Falsches zu sagen und sich zu blamieren. Die Angst bezieht sich oft auf Situationen, in denen man beobachtet oder bewertet werden könnte. Dabei kommt es häufig zu körperlichen Angstreaktionen (z.B. starkes Herzklopfen, Übelkeit, Durchfall oder Muskelanspannung), die sich bis zu einer Panikattacke steigern können.

  • Blockade
    Das „Nicht reden können“ ist in diesem Falle ein körperlicher Zustand aufgrund von Überforderung. Der Körper verfällt in eine Starre, in den sogenannten Totstellreflex. Die Sprache ist blockiert, soziale Interaktion ist nicht mehr möglich. Dieser Zustand ist geprägt von einem Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit.

Mutistische Menschen sind nicht trotzig

Menschen, denen das Hintergrundwissen über selektiven Mutismus fehlt, interpretieren das Schweigen von Mutisten oft als Trotz. Sie gehen davon aus, dass das Schweigen ein willentlicher Akt ist. Das Schweigen wird im schlimmsten Fall sogar als persönlicher Angriff interpretiert. Leute empfinden es als unhöflich, wenn ein Mensch nicht auf Fragen antwortet oder nicht in der Lage ist „Guten Tag“ oder „Danke“ zu sagen. Eltern von betroffenen Kindern sind ratlos und manchmal schämen sie sich für das Verhalten ihres Kindes. Es wird dann oftmals versucht, das Kind „alltagstauglich“ zu machen. Es wird verhaltensorientiert gearbeitet und mehr oder weniger Druck auf das Kind ausgeübt. „Wenn Du heute im Kindergarten sprichst, dann kaufe ich Dir nachmittags ein Eis“ usw. – das hat für mich etwas von Dressur und löst das eigentliche Problem nicht.

 

Nach meiner persönlichen Erfahrung hat das mutistische Schweigen nur wenig mit Trotz zu tun. Das Schweigen war bei mir nie ein bewusster Vorgang. Ich habe mir nie gesagt: „Ich schweige jetzt mal“, es passierte einfach. Mein Kopf war in diesen Momenten leer, ich hatte keine Gedanken. Ich wollte niemanden damit ärgern. Auch Aufmerksamkeit wollte ich nicht. Es war eher ein „Nicht können“ sowas wie: „Es tut mir leid, ich will dir nicht weh tun, aber ich bin gerade wie in Ketten gelegt.“ Immer wenn jemand von mir erwartet hat, zu sprechen, dann fühlte ich mich in die Ecke gedrängt und nicht verstanden.

Das Problem: fehlende Selbstregulation

Meiner Meinung nach ist das Schweigen bei Mutisten ein Ausdruck für fehlende Selbstregulation. Das Toleranzfenster des Nervensystems konnte sich in der frühen Kindheit nicht weit genug ausbilden. Mutisten können ihre Gefühle nicht gut steuern und fallen schnell in einen Zustand der Überforderung. Als Betroffnener versteht man sich selbst nicht mehr. Die Sprechblockade kommt, obwohl man das gar nicht will. Fehlende Selbstregulation ist oft eine Folge von Entwicklungstrauma, nähere Informationen dazu findest Du hier: https://traumaheilung.de/entwicklungstrauma

 

Neurophysiologisch lässt sich das „Nicht sprechen können“ gut mit der Polyvagal-Theorie von Dr. Stephen Porges erklären. Wenn ein Mensch sich nicht sicher fühlt, dann schaltet das Nervensystem automatisch in den Modus „Lebensgefahr“ und das System für soziale Interaktion ist in diesem Zustand blockiert. Bei Mutisten tritt dieser Zustandswechsel meist im Kontakt mit fremden Menschen auf, oder bei Kindern als Folge der Trennung von den Eltern. Der entscheidende Punkt ist das subjektive Gefühl von Sicherheit im Nervensystem. Es scheint irgendeine Instanz zu geben, die entscheidet, mit welchen Menschen Kontakt sicher ist und mit welchen Menschen nicht. Auch die Umgebung scheint eine Rolle zu spielen.

 

Dieser Zustandswechsel im Nervensystem ist für mich die bisher beste Erklärung für Mutismus. Der Mutismus-Zustand kommt tief aus dem Körper, der Verstand kann es nicht erklären. In späteren Jahren wandelte sich der Mutismus bei mir. Es war nicht mehr ausschließlich die körperliche Blockade, die mich am Reden hinderte. Es kam im Laufe der Zeit Resignation und auch Angst dazu: „Der andere versteht mich ja sowieso nicht, es hat keinen Zweck“ oder „Was soll ich denn jetzt nur sagen, mein Kopf ist leer“. Auch Schamgefühle spielten eine immer größere Rolle und trieben mich mehr und mehr in den Rückzug.

 

Besonders wichtig war mir, mit diesem Artikel zu zeigen, dass Mutismus keine Trotzreaktion ist. Das ist in meinen Augen eine fatale Fehlinterpretation. Es ein „Nicht können“ und kein „Nicht wollen“. Betroffene leiden unter dem Mutismus und fühlen sich sehr einsam.