Raus aus der Erstarrung

In diesem Artikel möchte ich beschreiben, wie es sich für mich anfühlt ‚lebendig zu werden und den Zustand der Erstarrung zu verlassen.

Wut und festgehaltene Lebensenergie

Für Menschen mit Depression bedeutet Heilung immer, dass sie mit ihrer unterdrückten Wut in Kontakt kommen. Diese Wut ist im Prinzip nichts anderes als festgehaltene Lebensenergie. Ist der Zugang zur Wut wieder freigelegt, dann ist dies ein sicheres Zeichen für die Heilung. Im Zustand der Depression habe ich dies nie verstanden. Therapeuten haben mir gesagt, dass ich auf einem riesigen Berg von Wut sitze, die müsste ich nur ‚integrieren‘. Ich habe mit den Schultern gezuckt. Da war keine Wut, das Gefühl kannte ich nicht. Da war nichts, nur Erschöpfung und innere Leere.

 

In den letzten Monaten spüre ich deutliche Veränderungen. Ich spüre Wut und erschrecke mich oft selbst, wenn sie zu Tage tritt. Ich verspüre aber auch eine unheimliche Energie und Kraft in mir. Oft ist es ein körperliches Gefühl von Expansion in Verbindung mit guter Laune und Zuversicht. Ich weiß nicht, wohin mit der Energie, wie ich sie loswerden soll. Es ist wie ein innerer Druck kurz vor der Explosion. Diese Gefühle sind komplett neu für mich und genau das Gegenteil von Depression. Es ist nicht stabil und ich erlebe auch immer wieder Schwingungen in Richtung Depression und Erstarrung. Das fühlt sich teils sehr extrem an und kippt innerhalb weniger Stunden. Oft wünsche ich mir einfach nur ‚Normalität‘.

 

Die aufsteigende Wut/Lebensenergie spüre ich auf verschiedene Art und Weise:

 

  •  Ich habe erstmals in meinem Leben Lust auf Sport. Es ist wie ein Zwang sich bewegen zu müssen, damit die Energie den Körper verlassen kann. Für mich ist das völlig neu. Ich habe schon als Kind Sport gehasst und möglichst vermieden. In der Schule war Sport mein absolutes ‚Hass-Fach‘.

  • Ich spüre Aggressionen gegenüber meinen Mitmenschen. Ich werde laut in meiner Stimme oder ich werde handgreiflich. Ich kann das kontrollieren und versuche niemandem zu schaden, der Impuls ist aber eindeutig da. Mein Ehemann muss da zurzeit als Opfer herhalten. Wir rangeln und schupsen uns oft, meist aber scherzhaft und es macht mir richtig Spaß 🙂

  • Ich habe ständig das Gefühl: ‚Ich muss etwas tun‘ und ich bin sehr ungeduldig. Ich will alles jetzt und 100%, es fällt mir sehr schwer mich zu bremsen. Das betrifft vor allem Planungen in Richtung Zukunft. Veränderungen brauchen Zeit, diese kann ich mir aber nicht gönnen. Ich werde innerlich getrieben.

  • Damit in Zusammenhang steht der ständige Gedanke: ‚Es muss sich jetzt irgendetwas krass ändern‘.  Es ist eine Wut auf das bisher nicht gelebte Leben und eine Energie die mir sagt: ‚Du hast das nicht alles durchgemacht, damit alles so bleibt wie bisher‘. Es ist die Suche nach einem Sinn im Leben.

Angst, Selbstzweifel und Scham

Neben all dem Positiven gibt es natürlich auch immer wieder Rückschläge. Immer wenn ich das Gefühl habe ‚Jetzt aber…, jetzt wird alles anders‘, dann kann ich darauf warten, dass von irgendwo her wieder negative Energien kommen. Es ist eine unbekannte Kraft, die ständig versucht, alles wieder kaputt zu machen.

 

Zum einen ist es Angst: Angst vor dem Neuen, Angst vor der eigenen Lebendigkeit, Angst vor der eigenen Energie, Angst vor Kontrollverlust, Angst vor der eigenen Unsicherheit. Es ändert sich gerade alles so schnell. Ich komme von der Erstarrung ins ‚Tun‘. Insbesondere der Kontakt mit Menschen ist völliges Neuland. Jahrzehntelang habe ich das vermieden und es fühlt sich jetzt an, wie der berühmte Sprung ins kalte Wasser.

 

Die weitere große Bremse ist, dass sich die Veränderung oft nicht gut anfühlt. Es fühlt sich an wie Selbstbetrug. Diese Stimme sagt: ‚Das kann nicht sein. Das bist nicht Du. Das ist nicht real. Was machst Du hier eigentlich?‘. Positive Erlebnisse rede ich mir im Nachhinein wieder schlecht. Ich mache den Deckel wieder zu, um mich besser zu fühlen. Es ist ein ‚Nicht-wahrhaben-wollen‘ und ein ‚Nicht-dran-glauben-können‘. Ich denke das hängt damit zusammen, dass ich mein gesamtes bisheriges Leben im Modus ‚Totstellreflex/Erstarrung‘ verbracht habe. Ich habe mich damit identifiziert. Wenn ich damit aufhöre, verliere ich sozusagen meine ‚Identität‘. Das fühlt sich teilweise an wie Sterben. Es braucht viele neue positive Erfahrungen. Das Schwerste daran ist, diese anzunehmen und nicht wegzudrücken.

 

Mein persönlich größtes Problem auf dem Weg der Heilung ist die Scham. Oft merke ich, dass ich mich für meine eigene Lebendigkeit schäme. Ich würde am liebsten alles heimlichtun, so dass es niemand merkt. Wenn mich jemand auf meine Veränderung anspricht, dann würde ich am liebsten im Boden versinken. ‚Lebendig werden‘, das heißt auch ‚Sichtbar werden‘. Das bereitet mir Probleme, ich habe das ein Leben lang vermieden.

 

Mein aktueller Eindruck ist: ‚je größer meine Kraft in Richtung Leben, desto aggressiver sind die Gegenkräfte‘. Es ist auf jeden Fall eine sehr spannende Zeit. Nach allem was ich über Traumaheilung weiß, ist es die richtige Richtung und es ändert sich gerade etwas Grundlegendes in meinem Leben…