Stille Kinder

Schüchterne und stille Kinder sind ‚pflegeleicht‘ und werden von Erziehern und Lehrern oft übersehen. Der Fokus liegt aus nachvollziehbaren Gründen oft auf den ‚Störenfrieden‘, den lauten und wilden Kindern. Durch Personalmangel und zu geringen Betreuungsschlüssel bleibt oft nicht die Zeit, sich um alle Kinder gleichermaßen zu kümmern. So ist es in der Praxis wohl oft so, dass die ruhigen und stillen Kinder als erstes auf der Strecke bleiben. Das ist fatal, denn gerade diese Kinder brauchen Hilfe aus der Erwachsenenwelt. Schweigen und Rückzug ist oft ein Zustand innerer Not. Betroffene Kinder sind darin gefangen und leiden still.

 

Kein Kind ist gleich und es ist auch nicht so, dass alle ruhigen und introvertierten Kinder leiden. Wenn sich das Kind damit wohlfühlt, sollte man dies so akzeptieren. ‚Still sein‘ ist nichts Schlechtes. Das Kind sollte nicht das Gefühl bekommen, etwas stimme nicht mit ihm. Problematisch wird es, wenn das ’still sein‘ mehr ist, als nur ein Charakterzug.
Klassische Anzeichen dafür, dass ein Kind in einem ungesunden Zustand ist und Hilfe braucht, sind meiner Meinung nach:

 

  • Isolation und Rückzug
  • wirkt oft abwesend (schaut Löcher in die Luft)
  • hat keine Freunde
  • nicht Sprechen oder extreme Sprechangst
  • Abwehr von Körperkontakt
  • das Kind spielt nicht

 

Das können Anzeichen dafür sein, dass das Kind traumatisiert ist und sich physiologisch gesehen im ‚Totstellreflex‘ befindet.

 

Wenn ein Kind zu allen oder bestimmten Erwachsenen nicht spricht, dann könnte es sein, dass selektiver Mutismus vorliegt.

Entwicklungstrauma als Ursache für ständige Über- und Untererregung

Entwicklungstrauma geht immer mit einer Desregulation im Nervensystem einher. Betroffene Kinder können sich nicht selbst regulieren und leben ständig in extremen Zuständen. Hier gibt es zwei Varianten:

 

  • Übererregung – Kampf/Flucht
    Hier ist der Sympathikus in der Übererregung. Der Körper ist mobilisiert und macht sich für Kampf und Flucht bereit.
    Symptome sind: Unruhe, Hyperaktivität, Angespanntheit, Schreckhaftigkeit, Angst und Wut.

 

  • Untererregung – Totstellreflex
    In diesem Modus ist der Parasympathikus übererregt. Der Körper schaltet in diesem Modus in den Totstellreflex, dies passiert wenn Kampf und Flucht nicht möglich sind. Symptome sind: Kraft- und Energielosigkeit, Depression, Dissoziation und ’sich allein und abgeschnitten fühlen‘.

 

Betrachtet man das Verhalten von Kindern mit dieser Brille, so kann man die extrem lauten und wilden Kinder in die erste Gruppe und die stillen zurückgezogenen Kinder in die zweite Gruppe einordnen. Beide Typen brauchen Hilfe, wenn der Zustand dauerhaft ist und sie nicht selbst in der Lage sind, sich selbst aus diesem Zustand zu befreien.

Hilfe aus der Erwachsenenwelt

Besonders wichtig finde ich, dass sich das Wissen über Entwicklungstrauma weiterverbreitet. Denn nur wenn wir verstehen, was das eigentliche Problem der betroffenen Kinder ist, dann sind wir in der Lage zu helfen. Es gibt mittlerweile sehr gute Literatur zum Thema (siehe Literaturliste) und auch schon einige Fortbildungen für Pädagogen. Das Stichwort hierzu lautet ‚Traumapädagogik‘.

 

An dieser Stelle möchte ich noch einige Tipps für den Umgang mit stillen Kindern geben. Ich war selbst betroffen und berichte aus eigener Erfahrung:

 

  • nicht unter Druck setzen
    Betroffene Kinder sind nicht in der Lage ihr Verhalten einfach so zu ändern. Wenn sie das könnten, dann würden sie es tun. Druck ist sehr schädlich und erzeugt ein Gefühl von Hilflosigkeit und das Gefühl ‚falsch zu sein‘

 

  • Grenzen wahren und nicht überschreiten
    Ich kann mich erinnern, dass ich oft ungefragt von Erwachsenen umarmt wurde. Das war unerträglich und ich wurde stocksteif. Ich war nicht in der Lage mich zu wehren. Sie meinten es gut mit mir, ich empfand es als massive Überschreitung meiner Grenzen und es hat mich überfordert. Erwachsene sollten an dieser Stelle sehr feinfühlig sein und nicht davon ausgehen, dass das eigene Erleben das gleiche ist wie das Erleben des Kindes.

 

  • Gesehen werden
    Obwohl ich mich distanziert habe und jegliche Kontaktversuche abgelehnt habe, habe ich mich innerlich danach gesehnt, dass mich jemand sieht und auf mich zukommt. Ein netter Blick oder ein stilles Nebeneinandersitzen hat schon dazu geführt, dass ich mich nicht mehr so alleine gefühlt habe.

 

  • Geduld
    Im Grunde geht es darum, sich behutsam zu nähern, ganz langsam und ohne dass Grenzen überschritten werden. Das Kind muss erfahren, dass Kontakt mit Menschen ungefährlich ist. Dafür braucht es vor allem viel Zeit und Geduld. Diese Zeit ist leider in unserem heutigen Bildungssystem nicht eingeplant und die praktische Umsetzung ist deshalb sehr schwierig 🙁

 

Sehr schöne Beispiele wie ein solcher Prozess funktionieren kann, sind in den Büchern von Torey Hayden beschrieben.

 

Abschließend möchte ich nochmal darauf hinweisen, dass Entwicklungstrauma nicht heißt, dass es Missbrauch oder Gewalt in der Kindheit gegeben hat. Es geht keinesfalls um eine Vorverurteilung der Eltern. Auch Kinder von Eltern, die ihr Kind über alles lieben und niemals Gewalt antun würden, können traumatisiert sein. Problematische Schwangerschaft, schwere Geburt, Brutkasten, Krankenhausaufenthalte – als dies ist für Kinder traumatisch und kann dazu führen, dass das Nervensystem nicht mehr im Gleichgewicht ist.