Toxische Scham

Scham ist das Gefühl, was ich spüre, wenn ich ‚Gesehen werde‘. Scham lähmt mich, sie hindert mich daran, ich selbst zu sein. Scham ist das ständige Gefühl, grundlegend falsch zu sein. Scham ist verbunden mit Hilflosigkeit, es gibt kein Entrinnen – ich selbst bin das Problem. Das soll niemand sehen. Ich möchte unsichtbar werden oder verschwinden.

Wie entsteht Scham?

Die Ursachen liegen wahrscheinlich in frühester Kindheit. Unsere Identität wird davon geprägt, wie sehr wir uns auf der Welt angenommen, geliebt und willkommen fühlen. Problematische Schwangerschaft, traumatische Geburt, Vernachlässigung, Missbrauch oder Bindungsprobleme – als das ist für einen Säugling lebensbedrohlich und traumatisch. Für Babys gibt es noch keine Trennung zwischen sich und ihrer Umgebung. Wenn sich ein Baby schlecht fühlt, dann macht es nicht die Fehler und Versäumnisse seines Umfeldes dafür verantwortlich. Säuglinge betrachten sich selbst als Ursache ihres Schmerzes. Sie sind es, die sich körperlich schlecht fühlen. Dieses Gefühl wird verinnerlicht und ist Grundlage für ein schlechtes Selbstbild und Selbstwertgefühl. Später folgt darauf die Kognition: ‚Mit mir stimmt etwas nicht, ich bin falsch‘. Betroffene Menschen fühlen sich chronisch ungeliebt, nicht liebenswert und wertlos.

Wie zeigt sich Scham?

Scham hindert mich daran, frei zu sein, ich selbst zu sein und sichtbar zu werden. Ich habe ständig das Gefühl, ich müsse etwas erfüllen, etwas leisten. Ich habe eine Art Scheinpersönlichkeit gebildet, die versucht alle Erwartungen zu erfüllen. Es ist ein ewiges Streben nach Anerkennung. Wenn dann Anerkennung kommt, dann kann ich diese nicht annehmen. Meine innere Stimme sagt: ‚Du meinst nicht mich, ich bin eine Betrügerin, ich tue nur so als ob‘.

 

Ich bin dauerhaft im Funktionsmodus und habe den Kontakt zu mir selbst verloren. Hinter meiner Maske fühle ich kein ICH, da ist es einfach nur LEER. Die Scham schlägt zu, wenn die Maske weggezogen wird und dieses NICHTS für alle sichtbar wird. Es fühlt sich unerträglich an, so gesehen zu werden. Es ist ein Gefühl von Sterben und Vernichtung. Wenn ich wirklich fühle, da meint jemand mich, da sagt jemand etwas Nettes, dann empfinde ich Angst und unerträglichen Schmerz. Davor renne ich weg und gehe lieber in Vermeidung.

 

Auslöser sind im Prinzip alle Situationen, wo die Blicke auf mich gerichtet sind, wo ich im Mittelpunkt stehe. Ich habe Versagensängste und Angst vor der allgemeinen Erkenntnis: ‚Mit Dir stimmt doch irgendetwas nicht‘. Ich habe Angst davor, dass mein ‚Schauspiel‘ auffliegt. Wenn ich mich schäme, beobachte ich ständig mein Verhalten und meine Wirkung. Beides bewerte ich als äußerst negativ. All das führt zu Vermeidung und sozialen Ängsten. Zwischen sozialer Phobie und toxischer Scham gibt es meiner Meinung nach einen engen Zusammenhang.

Wie löst man das Problem?

Ich fürchte da gibt es keine einfache und schnelle Lösung. Ich habe sie zumindest noch nicht gefunden. Trotz vieler Fortschritte in der Heilung ist Scham für mich noch immer ein Problem. Ich denke man kann dies nur im zwischenmenschlichen Kontakt lösen. Das macht Angst, aber es führt kein Weg daran vorbei. Das Schamgefühl kommt aus der Kindheit, es passt nicht mehr in die aktuelle Situation. Deshalb ist es wichtig neue Erfahrungen im Kontakt mit Menschen zu machen, damit das alte Programm überschrieben wird. Lässt man Nähe zu und betrachtet die Realität heute ohne Kindheitsprogramm, dann erkennt man vielleicht: da ist jemand, der meint mich, der ist nett zu mir. Die Herausforderung besteht darin, das anzunehmen und dem zu glauben. Das braucht sicherlich Zeit. Jeder Kontakt, der innerlich berührt, löst alte schmerzliche Gefühle. Bei mir ist es tatsächlich so, dass ich dann sehr schnell anfange zu weinen. Das ist mir sehr unangenehm. Ich versuche es dennoch zuzulassen, weil ich weiß das dies am Ende heilsam ist.