Innere Leere

Menschen mit sehr frühen Traumatisierungen hatten oft nicht die Möglichkeit, ein gesundes ICH-Gefühl zu entwickeln. Einige Gedanken dazu habe ich bereits im Artikel über Toxische Scham und Dissoziation aufgeschrieben. In diesem Artikel möchte ich nochmal genauer auf das Gefühl der Inneren Leere eingehen.

Da ist niemand

Der Satz: „Da ist niemand – trifft es ziemlich gut. An der Stelle wo es ein ICH geben sollte, ist es einfach nur LEER. Keine Gefühle, keine Bedürfnisse, keine Meinung, keine Lebendigkeit – es ist wie nicht existieren, ein Zustand ohne Körper und ohne Sprache. Der Körper ist zwar irgendwie da, aber er hat keinen Bewohner.
Menschen können in diesem Zustand wunderbar funktionieren. Von außen sieht alles normal aus. Es ist ein Mitschwimmen in der Masse, ein Funktionieren, ein so tun, als ob... Innerlich ist es leer – nicht leben, sondern gelebt werden.


Das ist ein schreckliches Gefühl, eine unendlich tiefe Einsamkeit, abgeschnitten vom ICH und von den anderen – wie im luftleeren Raum. Man schaut sich selbst und den anderen beim Leben zu, wie ein Zuschauer bei einem Kinofilm. Mir ging es auch oft so, dass ich die Welt um mich herum nicht verstanden habe. Warum unterhalten sich Menschen? Warum berühren sie sich? Warum lachen sie jetzt? Was bringt das? Es war ein Mangel an Erleben, ein Mangel an Lebenserfahrung, die innere Leere wurde größer und größer. Ist sie entsprechend groß, so macht das Leben irgendwann keinen Sinn mehr.

 

Innere Leere hat ihren Ursprung in unserer frühesten Kindheit. Nicht willkommen sein in dieser Welt oder frühes Aufgeben der eigenen Lebendigkeit – dies führt dazu, dass wir uns falsch fühlen oder irgendwie nicht in diese Welt passen. Als Folge davon ziehen wir uns vom Leben zurück, wir gehen in eine Art Dauerdissoziation und sind einfach nicht mehr da.

Ohne Persönlichkeit

Menschen mit diesem Problem sind in der Regel nicht sichtbar. Wie auch, es ist ja innerlich niemand da, der sichtbar sein kann. Ich spürte immer eine große Angst, dass jemand die Leere und das Nichts in mir entdeckt. Meine Standardlösung war Verstecken und Rückzug. Sobald jemand meine Grenzen berührte, kam unendlich viel Angst und Scham. Ich war unsicher, ich traute mich nicht. Ich wollte zurück in mein Versteck und am liebsten alle Türen schließen. Ich hatte ständig Angst, Angst etwas Falsches zu tun, Falsches zu denken oder peinlich zu sein.

 

Es war ein Mangel an Vertrauen, sowohl Vertrauen in mich selbst als auch in andere Menschen. Mit dieser inneren Leere in mir fühlte ich mich oft wie ein unbeschriebenes Blatt, farblos, interessenlos, langweilig und uninteressant. Ich hatte keine Persönlichkeit, ich war nicht, ich war ein Nichts.
Wer interessiert sich schon für ein Nichts? Wie soll ein Nichts Freunde finden? Wer interessiert sich schon für jemanden, der zu nichts eine Meinung hat? Wer interessiert sich schon für jemanden, der ständig zurückweichend und ausweichend ist, wie ein ausgeleiertes Gummiband. Jemand, an dem man keine Reibung und keinen Widerstand und kein Gegenüber spüren kann. Jemand, der sich ständig verbirgt, der sich nicht zeigt, der sich nicht traut, sich zu zeigen.

Innere Leere ist nur ein Schutzschild

Meine Sichtweise auf das Gefühl der inneren Leere hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Ich will sie nicht mehr weghaben, denn ich weiß, dass sie ihre Existenzberechtigung hat – sie ist nur ein Schutzmechanismus. Sie ist das Ergebis langanhaltener Dissoziation und eine typische Traumafolgeerscheinung. Den Körper nicht spüren, nicht zu fühlen, nur noch zu denken – das führt über einen langen Zeitraum hinweg zwangsläufig zu einem Gefühl der inneren Leere. Die Leere ist ein Symptom dafür, dass man lange Zeit nicht in Kontakt mit sich selbst und der Welt war. Die Gedanken sind oft das Einzigste, was sich lebendig anfühlt. Hört man auf zu denken, dann fühlt sich alles leer an.

 

Das Problem ist also die Trennung vom eigenen Körper. Damals in der traumatischen Situation als Kind wo die Dissoziation entstanden ist, war sie lebensrettend, sie hat uns stabilisiert und uns vor Überflutung mit unaushaltbaren Gefühlen geschützt. Heute als Erwachsener können wir beginnen, wieder langsam hinzuschauen und uns aus ihren Griffen befreien.

 

Unterhalb der Leere finden sich die Körperempfindungen und all die nicht gefühlten Gefühle. Da hinzuspüren, das ist aus Sicht des Nervensystems gefährlich, ja sogar überflutend. Es sind die schmerzlichen Gefühle aus der Kindheit, die auf keinen Fall nochmal erlebt werden wollen. Die Leere wirkt wie eine Art Schutzschicht, die uns vor dem, was darunter liegt, beschützen will.
Die Leere ist sozusagen ein Schutzschild nach innen, ein Schutzschild vor den Gefühlen der Kindheit. Sie hindert uns daran, in den Körper zu spüren und mit uns selbst und dem ICH-Gefühl in Kontakt zu kommen. Aber auch im Kontakt mit der Außenwelt, wirkt die Leere wie ein Schutzschild. Sie hindert uns daran, in Kontakt mit Menschen zu gehen. Innere Leere ist eine schöne Ausrede, um nicht kommunizieren zu müssen. Wo nix ist, da sind keine Worte und somit auch kein Kontakt.

Innere Leere als Tor zur Heilung

Seit ich verstanden habe, dass ich nicht selbst die Leere bin, sondern dass dies nur eine Schutzfunktion ist – geht es mir schon deutlich besser. Der Druck diese Leere weghaben zu wollen und sie irgendwie füllen zu wollen, wurde immer weniger. Geläufige Mittel um innere Leere zu füllen, sind: Ablenkung, durch Tun und Machen, Anerkennung von außen, Essen, Süchte usw. Dass das nicht funktioniert, und wenn dann nur kurzfristig, weiß ich mittlerweile recht gut. Ich tapse aber dennoch manchmal in diese Falle.

 

Der andere Weg ist es, nicht in die Vermeidung zu gehen und sich dem Gefühl zuzuwenden. Innere Leere ist für mich mittlerweile wie eine Art Signalgeber geworden. Wenn ich dieses Gefühl spüre, dann sagt es mir: Kommuniziere mich. Spüre mich.

 

  1. Kommuniziere mich
    Es geht darum, trotz dieser Leere oder gerade mit dieser Leere in Kontakt zu treten und sie zu kommunizieren. Das Erste, was dabei kommt, ist Scham und Angst. Es braucht an dieser Stelle den Entschluss, da drüber zu hüpfen, es trotzdem zu tun und sich einfach fallen zu lassen. Es ist ein aktiver Moment, in dem man ein Wagnis eingeht, weil man weiß, dass der Rückfall in den Schutzmechanismus nicht weiterhilft. Wenn mir das gelingt, dann komme ich mehr in Kontakt mit mir selbst und zu meinen Mitmenschen.

  2. Spüre mich
    Ich spüre bewusst rein in die Leere. Reinspüren heißt jetzt nicht, sich dort reinfallen zulassen, die Leere und Sinnlosigkeit zu spüren und depressiv zu werden. Nein, ich erkenne sie als Schutzschild und versuche mich nicht damit zu identifizieren. Ich zwinge mich dazu, die Leere körperlich zu spüren. Das ist der Raumöffner, um eine Schicht tiefer zu gehen. Es fühlt sich für den Moment ziemlich schrecklich an. Bei mir sitzt die Leere auf dem Zwerchfell und im Brustbereich. Ich habe dann immer ein Gefühl von Zusammenziehen, von Implosion, nicht mehr Atmen können. Es kommt dann wie eine Art schwarzes Loch, was sich hinter meinen Augen zusammenzieht. Wenn ich dabeibleibe und es fast nicht mehr geht, dann löst es sich schlagartig auf und es kommt für gewöhnlich ein tiefer Atemzug. Danach ist alles ganz leicht.

 

Egal welchen der beiden Wege ich gehe, die Folge ist die Gleiche: ich komme in Kontakt mit meinen Gefühlen und ich spüre meinen Herzraum. Das Gefühl, was bei mir meist hochkommt, ist tiefe Traurigkeit. Oft entlädt sich das Gefühl in Wellen und ich spüre danach eine große Erleichterung. Ich nenne es mittlerweile: meine Badewanne voller Tränen. Und eines Tages, wenn ich oft genug kleine Mengen abgelassen habe, braucht es vielleicht keinen Überlaufschutz mehr in Form von Dissoziation.

 

Hinter der Leere und den Tränen öffnet sich der Raum des eigenen Fühlens, der eigenen inneren Wahrheit. Aber auch der Raum zum eigenen Selbst, zu den eigenen Talenten, Wünschen und vielen Fähigkeiten, zu denen ich vorher keinen Kontakt aufnehmen konnte.

 

Wichtig bei allem, was ich gerade geschrieben habe, ist noch das Gefühl von Sicherheit. Früher waren die Gefühle bedrohlich und mussten deshalb abgespalten werden. Wenn Du heute in Kontakt mit schmerzlichen Gefühlen kommst, allein bist und Dich dabei nicht sicher fühlst, dann ist das nicht heilsam. Im schlimmsten Fall kommt es zu Überflutung und erneuter Dissoziation.
Dein Nervensystem braucht deshalb eine neue positive Information. Im Idealfall sollte jemand da sein, der das aushält und Dich einfach nur in den Arm nimmt, wenn die schmerzlichen Gefühle hochkommen. Das schafft unglaublich viel Nähe und ist sehr erleichternd, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen.

Radikale Erlaubnis hilft dabei, das Tor zu öffnen

Nachdem ich diese heilsamen Erfahrungen für mich selbst machen durfte, bin ich im Nachgang auf die Methode der Radikalen Erlaubnis nach Mike Hellwig gestoßen. Ich habe festgestellt, dass diese im Kern genau das Gleiche bewirkt. Man geht in Kontakt mit der inneren Leere, geht ins Fühlen und in den Körper und fühlt gleichzeitig, dass man damit nicht alleine ist. Das was dann im Idealfall passiert, ist die typische Nadelöhr-Erfahrung, wie sie in der Radikalen Erlaubnis beschrieben wird. Wenn man körperlich im Kontakt mit sich selbst durch den Schmerz des verlassenen inneren Kindes durchgeht, dann wird es frei. Falls Dich diese Methode interessiert, ich berichte in diesem Blog-Artikel über die Wirkungsweise und meine persönlichen Erfahrungen.

Quellen und weiterführende Links

Dami Charf
Wenn Trauma zu Einsamkeit führt

 

Gopal
Nicht da sein dürfen
Das Rumpelstilzchen-Prinzip bei „Da ist aber Nichts“
Integration von Einsamkeit

 

 

Sich leer zu fühlen, ist oft assoziiert mit fehlender Verkörperung, Erstarrung und mit Dissoziation. Über meine Erfahrungen hierzu berichte ich in diesen Blogartikeln:

Verkörperung
Raus aus der Erstarrung
Nicht da sein